Die Verabschiedung einer Resolution des Mannheimer Gemeinderates gegen die BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel) und meine Zustimmung und Erklärung als Stadtrat der LINKEN im Gemeinderat haben bundesweite Reaktionen ausgelöst, die das ganze Spektrum linker Positionen zum Israel-Palästina-Konflikt abbilden: Harsche Verdammung der Resolution als Schlag gegen das palästinensische Volk bis Kritik daran, dass die Anti-BDS-Resolution nicht einfach kommentar- und damit rückhaltlos unterstützt wurde. Die Position der LINKEN im Mannheimer Gemeinderat möchte ich daher noch einmal – unter Berücksichtigung der ganzen Kompelxität des Konflikts – herleiten und begründen. Es wäre begrüßenswert, wenn zumindest auf örtlicher Ebene, ein konstruktiver Dialog zum Ziel „Frieden in Nah-Ost“ wieder in Gang käme. Die Mannheimer Friedensbewegung hat schon vor Jahren den Diskurs eingestellt, und sich (nach dem Einbruch in Folge des Balkankriegs) weiter dezimiert. Äußerungen erfolgen nur noch von einzelnen Menschen, die sich der Friedensbewegung zurechnen (wie ich persönlich ja auch).
- Der Staat Israel ist ein Ergebnis von Fluchtwanderung jüdischer Bevölkerung vor europaweiter antisemitischer Diskriminierung, vor Pogromen (v.a. Zarenreich und auch UdSSR) und schließlich vor dem nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen der Shoah.
- Der Zionismus wollte ursprünglich eine „Heimstatt“ für Jüd*innen schaffen, in der alle Menschen frei von Diskriminierung und Repression leben können sollten. Diese emanzipatorische Idee scheiterte von Anfang an. Die jüdische Besiedelung war konfliktreich und konfrontativ, der Widerstand der arabischen Bevölkerung massiv.
- Tragischer-, aber vielleicht unvermeidlicherweise bildeten die rassistischen Ausgrenzungskriterien des Antisemitismus in Umkehrung auch die Grundlage für die Zugehörigkeitskriterien des neuen Staates Israel, für das Staatsbürgerschaftsrecht derer, die sich nach Palästina retten konnten – zuletzt von der Netanjahu-Regierung auf die Spitze getrieben durch die Definition des Staates Israel als „Nationalstaat für jüdische Menschen“ im Juli 2018, als Schutz vor demografischer „Überfremdung“.
- Der Staat Israel war schon vor seiner Gründung als britisches Mandatsgebiet Bezugspunkt für imperialistische „Neuordnungen“ des Nahen und Mittleren Ostens und blieb es, von der Zerlegung des Osmanischen Reichs bis hin zu den Golfkriegen und aktuell dem Syrienkrieg, nicht nur passiv, sondern auch höchst aktiv und fest dem „Westen“ verbunden. Der Widerstand hiergegen seitens der Anrainer verband sich von Anbeginn auch mit dem Widerstand der Palästinenser gegen den Siedlerstaat.
- Der 1977 angestoßene Friedensprozess ist
mittlerweile fast völlig zum Erliegen gekommen. Alle israelischen Regierungen
seit Ehud Olmert verschärften die Konfrontation mit Militäraktionen (z.B. Libanon,
Gaza) und stetiger Fortsetzung der Siedlungspolitik. Eine Zweistaatenlösung
erscheint aufgrund der Siedlungspolitik ebenso obsolet wie die Vision eines
einheitlichen, demokratischen Staatswesens in Israel/Palästina auf Basis
vollkommener Gleichberechtigung aller Bewohner*innen des Staatsgebiets und
Herstellung gleicher Lebensbedingungen.
- Deutschland hat aufgrund der Shoah eine dreifache Verantwortung in der Region: Das konfliktreiche Ergebnis der massenhaften Fluchtbewegung vor der NS-Vernichtungsstrategie muss historisch anerkannt werden: „Existsenzrecht Israels“. Zweitens ist anzuerkennen, dass die arabische Bevölkerung Palästinas und ihre Nachfahren keinerlei Schuld an der Shoah und ihren Folgen tragen, aber zu tiefst davon betroffen sind. Deutschland muss daher auch für das Lebensrecht und die Würde der Palästinenser in der Region eintreten, also aktiv für die Zwei- oder Einstaatenlösung, auf jeden Fall für Deeskalation und Versöhnung und für die wirtschaftliche Entwicklung aller Gebiete – kurz: für Frieden. Dazu muss die Überwindung des aus der Vertreibungs- und Fluchtsituation entstandenen ethnisch-exklusiven und religiös fundierten vormodernen Staatsverständnisses und Staatsbürgerschaftsrechts Israels unterstützt werden. Gleichzeitig muss die wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung der Palästinensergebiete unterstützt werden. Beides setzt beidseitigen Verzicht auf kriegerische Maßnahmen und gegenseitige Vertrauensbildung voraus. Dazu gehören das Ende der Siedlungspolitik und v.a. auch die Aufhebung der Gaza-Blockade und damit auch die Befriedung eines riesigen Verzweiflungs- und
- Hasspotenzials. Auch hier hat Deutschland eine historische Verantwortung.
- Eine linke Position in Deutschland zu diesem Konflikt kann nur heißen, dafür zu sorgen, dass diese besondere deutsche Verantwortung wahrgenommen wird – wenn sie auch noch so utopisch anmutet.
- Die traditionelle linke Palästina-Solidarität
der 70er Jahre, die den Palästinakonflikt mit den gleichzeitigen
Dekolonisierungskriegen in Afrika und den Befreiungskriegen in Südostasien
gleichsetzte, negierte wesentliche Aspekte der israelisch-palästinensischen
Problemlage. Einige Akteure praktizieren dies auch noch nach 40 Jahren so.
- Den arabischen Widerstand gegen den Staat Israel und die daraus resultierenden politischen Frontstellungen, die sich bis in die Großstädte Mittel- und Westeuropas hineinziehen, als genuin „antisemitisch“ zu bezeichnen, ist eine Verdrehung der Tatsachen und Verharmlosung des europäischen Antisemitismus. Dieser resultierte nicht aus dem Zusammenstoß unterschiedlicher Völker, sondern aus inneren Widersprüchen der Gesellschaften selbst. Er richtet/e sich willkürlich gegen Angehörige der eigenen Gesellschaft und macht/e sich an religiösen, sprachlichen und kulturellen „Merkmalen“ fest, aus denen ein Recht auf Diskriminierung, Verfolgung und Tötung abgeleitet wurde/wird.
- Ebenso abwegig sind Versuche des „antideutschen“ Lagers, sich der historisch überkommenen Verantwortung gegenüber Israel und Palästina durch den Kurzschluss zu entledigen, Antifaschismus bedeute heute einfach, jede noch so krude Wendung der Politik der Israelischen nationalreaktionären Regierungen zu akzeptieren.
- In der israelischen Gesellschaft selbst gibt es seit jeher Bewegungen, die sich gegen die ethnische Dominanz der jüdischen Bevölkerungsteile und für Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung einsetzen, die davon ausgehen, dass es Sicherheit und Frieden für die Menschen in Israel / Palästina nur auf Basis eines Friedensprozesses geben kann. Diese Kräften bedürfen internationaler politischer Unterstützung. Gleiches gilt für nach Ausgleich strebende Kräfte auf palästinensischer Seite.
- BDS-Kampagne ist immerhin ein nicht-militärischer Versuch von Teilen der palästinensischen Gesellschaft, internationalen Druck auf Israel auszuüben. Als Boykott richtet sich die Kampagne jedoch nicht nur gezielt gegen die Regierung, sondern gegen den gesamtaen jüdischen Teil der israelischen Gesellschaft auf den Gebieten der Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und trifft am Ende auch noch „kollateral“ palästinensische Teile der israelischen Gesellschaft. Er greift das ethnizistische Staatsverständnis Israels auf und differenziert nicht nach den Positionen, die die unterschiedlichen Teile dieser Gesellschaft im Israel/Palästina-Konflikt einnehmen. Er trifft auch die Kräfte, die aus Israel heraus versuchen, Brücken der Veständigung und praktischen Versöhnung zu bauen.
- BDS-Kampagne in Deutschland weckt eine fatale Boykott-Erinnerung aus der NS-Zeit. Da helfen alle gegenteiligen Beteuerungen nichts. Man muss die Kampagne in Deutschland v.a. auch daran messen, wie sie „rüberkommt“ und welche fatale Anhängerschaft sie hierzulande – sicher ungewollt – ebenfalls mobilisiert. Der Antisemitismus in Zeiten der „rechtspopulistisch“ bis unmittelbar faschistischen Mobilisierung ist ein gravierendes Thema, wenn auch nicht alles tatsächlich antisemisch ist, was von interessierten Kreisen als solches gegeißelt wird. Die israelische Regierung fährt im Ringen um internationale Unterstützung für ihren reaktionären Kurs eine offensichtliche PR-Kampagne, die der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus schadet. So ist die unangemessen aufgeregte Gegenkampagne gegen die BDS-Kampagne, die vor allem bundesweit an den Hochschulen und eben in manchen Kommunen (wie z.B. Mannheim) Wellen schlägt, sicherlich Ergebnis auch dieser Strategie. Vor die Frage gestellt, ob man für oder gegen die BDS-Kampagne ist, kann ich mich als Linker in der BRD nur gegen diese Kampagne stellen.
- Die linken Kräfte und die Friedensbewegung in Deutschland haben m.E. eine viel wichtigere Aufgabe: Die Bundesregierung tagtäglich in die Pflicht zu stellen, auch auf europäischer Ebene Druck gegen diejenigen Elemente der gegenwärtigen israelischen Regierungspolitik aufzubauen, die immer neues Benzin ins Feuer schütten, wie z.B. die Fortsetzung der Siedlungspolitik, die Abriegelung des Gazastreifens, die Mauer im Osten und die zunehmende Diskriminierung der Palästinenser*innen in Israel (Staatsbürgerschaftsrecht). Notwendig wäre ein Marschallplan für die palästinensischen Gebiete.
- Zur Situation in Mannheim: Die Stadtgesellschaft umfasst einen hohen Anteil an Bewohner*innen unterschiedlichster Herkunft, auch aus solchen Ländern, die starke innere Konflikte haben oder mit anderen Ländern im Konflikt leben. 20% der Mannheimer*innen kommen beispielsweise aus der Türkei einschließlich der kurdischen Provinzen. Die Konflikte in den Herkunftsländern beschäftigen natürlich auch die eingewanderten Menschen. Es gibt auch wieder eine wachsende jüdische Gemeinde mit starker Immigration aus Russland, und es gibt eine große arabische Community. Es ist von grundlegender Bedeutung für eine Stadt wie Mannheim, dass all die Konflikte, die auch hier erlebt werden, nicht hier ausgetragen werden. Als Verständigungsplattform hierfür wurde die Mannheimer Erklärung von allen relevanten Kräften unterschrieben und wird auch gelebt.
- Mannheim pflegt eine sehr lebendige Städtepartnerschaft mit Haifa. Das Narrativ dieser Stadt hebt ein für israelische Verhältnisse sehr positives Zusammenleben verschiedener Ethnien und Religionen hervor. Ich unterstütze diese Städtepartnerschaft aktiv. Gleichzeitig und in Absprache mit Haifa unterhält Mannheim eine ausbaufähige Verwaltungskooperation mit Hebron. Hier wird u.a. die Errichtung einer modernen Abwasserentsorgung in praktischem Austausch unterstützt. Es sind solche Projekte, in denen nach meiner Überzeugung die Kristallisationspunkte einer Friedensentwicklung liegen, wenn es denn eine solche überhaupt noch geben kann, wofür der Kampf niemals aufgegeben werden darf.
Thomas Trüper, Stadtrat DIE LINKE Mannheim