Hilfsorganisation Bayti im Kampf gegen die Ausgrenzung von Straßenkindern

„Association Bayti pour l´enfance en situation difficile“  – „Association Bayti. Für Kinder, die unter schwierigen Umständen aufwachsen“

(Bericht eines Freiwilligen beim christlichen Friedensdienst EIRENE 2015)

1995, zwei Jahre nach der Unterzeichnung einer internationalen Konvention zu Kinderrechten von Marokko, wurde die Association Bayti gegründet, um neben den unzulänglichen Bemühungen von Seiten des Staates zum Schutze der Kinder eine Alternative aufzubauen.

Heute arbeiten ca. 50 Mitarbeiter in verschiedenen Programmen mit Straßenkindern und mit Kindern, die Opfer von Gewalt, sexueller und finanzieller Ausbeutung sind. Zusammengefasst: Mit Kindern, die unter schwierigen Umständen aufwachsen.

Bayti ist hocharabisch und heißt „mein Haus“. In Casablanca, Essaouira und in der Provinz von Kenitra wird versucht den Kindern ein solches, je nach Programm, in anderer Art zu bieten.

Ich arbeite im Foyer, d.h. im Kinderheim von Bayti, das sich in Casablancas Stadtteil Sidi Bernoussi befindet. Hier soll den Kindern ein neues „bayti“, also ein Zuhause geboten werden.

Im Kinderheim leben Kinder im Alter von 5-18 Jahren, die unterschiedlichste Hintergründe haben. Meist wurden sie aufgrund innerfamiliärer Probleme (Gewalt, Alkoholkonsum der Eltern, Prostitution…), und/oder weil sie Halb- oder Vollwaisen sind, von Bayti aufgenommen.

Momentan leben ca. 50 Kinder im Foyer, die hier rund um die Uhr von Educateuren betreut werden. Diese Betreuung reicht von einfacher Aufsicht, über Erziehungsmaßnahmen bis zu sehr persönlichen Gesprächen, in denen die Educateure Vater- oder Mutterrollen einnehmen. Es gibt zwei Wohneinheiten, in denen die Kinder nach Alter aufgeteilt sind. Die Älteren (14-18 Jahre) wohnen im Hauptgebäude, das auch die Administration, also den Hauptsitz von Bayti miteinschließt. Gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnen die Jüngeren (5-13 Jahre).

Neben Unterkunft und Verpflegung wird dafür gesorgt, dass die Kinder zur Schule gehen oder im entsprechenden Alter einen Ausbildungs- oder Studienplatz finden. Bayti begleitet die Kinder bis zur Selbstständigkeit, wenn vorher nicht – und das ist der Optimalfall und Ziel von Bayti – eine Reintegration in die Familie gelingt. Neben der Arbeit mit den Kindern im Heim wird auch eng mit den Familien der Kinder zusammengearbeitet. Soweit möglich soll der Aufenthalt bei Bayti eher Übergangspunkt und nicht dauerhafter Zustand sein.

Oulad Ziane und die Kinder von der Straße

Alle Wege führen nach Casa. Der Busbahnhof von Casablanca ist das Drehkreuz für den vielgenutzten Fernbusverkehr in Marokko. Etwa 800 Busse kommen hier täglich an oder fahren ab. Neben dem Zugverkehr hat der Fernbusverkehr einen großen Anteil an der Personenbeförderung in Marokko, wenn nicht sogar einen noch größeren. Das Busfahren ist deutlich günstiger und teilweise sogar schneller. Außerdem sind viele Regionen nicht an das Schienennetz angebunden. Komfortablere Linien haben private Busbahnhöfe nahe dem Zentrum. Alle anderen halten am Oulad Ziane.

Normalerweise ist dies ein Ort, an dem man nicht viel Zeit verbringt. Man kommt an, kauft ein Ticket und steigt in seinen Bus. Alles, was um einen herum passiert, wird nicht beachtet und ignoriert. Dabei ist es sehr viel, was es hier zu sehen gibt. Oulad Ziane ist eine eigene kleine Welt.

Draußen vor den Eingängen des großen Gebäudes stehen die Fahrkartenverkäufer auf Neuankömmlinge wartend, während sie die Namen ihrer Reiseziele, für die sie Tickets verkaufen, schreien: „Marrakch! Marrakch!“, „Fes! Fes! Fes!“, hört man auch noch, wenn man durch einen der Eingänge getreten ist, hinter denen sich ein weites Blickfeld auf die Bahnhofshalle und das dahinterliegende Außengelände ergibt, auf dem die vielen Busse stehen.

In der Bahnhofshalle sind viele verschiedene Menschen zu sehen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Manchmal allein, manchmal in Gruppen. Mit Gepäck und ohne Gepäck. Reisende und nicht Reisende. Zu letzteren gehören abgesehen von den Menschen, die am Bahnhof arbeiten, vor allem Obdachlose, die sich den Bahnhof als vorübergehenden Aufenthaltsort ausgesucht haben, denn hier gibt es alles, was man braucht.

Im Untergeschoss des Bahnhofes befinden sich Imbisse, Kleidungsgeschäfte, ein Friseur und Cafés. Durch den Kauf eines Getränks in einem der Cafés erwirbt man gleichzeitig das Recht dort die folgende Nacht zu verbringen. Man muss zwar mit einem normalen Stuhl als Schlafplatz vorlieb nehmen, doch ist es für viele besser als nichts.

Zu den Leuten, die in den Cafés übernachten, gehören ausschließlich erwachsene Männer. Doch es gibt auch eine andere Gruppe, die sich hier aufhält: Straßenkinder (frz.: les enfants de la rue).

Eine Woche lang habe ich am Busbahnhof einen Kollegen begleitet, um einen Einblick in die dortige Arbeit von Bayti zu bekommen. Es war bisher eine der interessantesten Wochen während meiner Arbeitszeit bei Bayti. Mit den Kindern, die auf der Straße leben, konfrontiert zu sein, war eine neue Erfahrung im Gegensatz zum bisherigen Heimalltag, und zudem habe ich eine neue Sicht auf die Dinge gewonnen.

In Marokko gibt es über 30.000 Straßenkinder. Der Großteil von ihnen lebt in Casablanca. Die meisten von ihnen stammen aus prekären und äußerst schwierigen Verhältnissen und sind oft nach innerfamiliären Konflikten und Brüchen auf die Straße gegangen.

Es ist schwierig, sich in die Kinder hineinzuversetzen, doch kann man ein stückweit nachvollziehen, warum sie diesen Schritt tun. Sie entkommen einem enormen Druck, der Einschränkung und der Gewalt und machen sich auf in ein Abenteuer. Sie sind in allem frei, erfahren eine völlig neue Art von Solidarität, wenn sie sich eine der vielen Banden anschließen, und zudem können sie durch kleine Nebenjobs, die es u.a. auch am Busbahnhof gibt, sogar eigenes Geld verdienen.

Auf einem Rundgang mit meinem Kollegen besichtigten wir von außen ein altes, verlassenes Kino, in dem sich angeblich eine Gruppe von Jugendlichen eingerichtet hat. Es ist wirklich eine abenteuerliche Vorstellung.

Und dann gibt es noch den Kleber (tchamkir). Sniffing wird von einem Großteil der Straßenkinder betrieben. Nasal mit z.B. einem Taschentuch oder oral mit einer Plastiktüte versetzen sie sich für 6 bzw. 11 Dirham (50 Cent bzw. 1€) in rauschartige, ekstatische Zustände. Diese Flucht in die Traumwelt lässt die Jugendlichen auch mehr Mut haben, sie fühlen sich nicht mehr verantwortlich für ihre Taten und sie verlieren Hunger- und Kältegefühl.

Dafür bezahlt wird mit starken gesundheitlichen Problemen, ein deutlicher Verlust an Denkvermögen und bei zu starken Dosen manchmal der sofortige Tod.

Auch sonst stehen Abenteuer, Freiheit und Ekstase vor allem Nachteile entgegen. Der Alltag vieler Kinder ist geprägt von Kälte, Hunger und Sniffing. Ein Vertrauensverlust in sich selbst und in andere läuft ab, die Kinder und Jugendliche sind mit hoher Gewalt konfrontiert und neigen dazu sich selbst zu verletzen und den eigenen Körper stark zu vernachlässigen. Außerdem verlieren viele ein Bewusstsein für die Zukunft.

Im Laufe der Woche, die ich am Busbahnhof verbrachte, liefen wir in der Gegend des Bahnhofs herum, trafen Kinder und sprachen mit ihnen. In einem Gespräch mit einem 11-Jährigen Jungen fragte mein Kollege, ob er zurück zu seiner Familie oder zu Bayti ins Heim wolle. Die Antwort war zweimal nein. Er wolle auf der Straße bleiben.

Es ist schockierend, wenn man daran denkt, wie man selbst aufgewachsen ist und unter welchen Umständen es die Kinder auf der Straße tun.

Ziel der Arbeit meines Kollegen am Busbahnhof ist immer wieder, Gespräche mit den Kindern zu führen, in denen über ihre Probleme, ihre Umstände und ihre Zukunft geredet wird. So haben die Kinder die Möglichkeit ein wenig zu reflektieren, was sie tun und wo sie sich befinden. Bei geeigneten Voraussetzungen werden Kinder auch ins Heim aufgenommen, d.h. sie nehmen keine Drogen mehr und haben den festen Willen ihr Leben zu ändern.

Zu den Anfängen von Bayti lag ein Schwerpunkt in der Arbeit auf der Straße. Mittlerweile sind die Ressourcen in diesem Bereich stark gekürzt, was trotz der Tatsache, dass es einige andere Organisationen gibt, die in diesem Bereich tätig sind, schade ist. Denn es gibt viel zu tun.

Christoph Schuch (https://www.eirene.org/sites/default/files/RB2ChristophSchuch.pdf)