Der neue Sozialatlas der Stadt Mannheim für das Jahr 2017 enthält neben einer Fortschreibung der Zahlen der letzten Ausgabe von 2014 interessante „Handlungsempfehlungen“ für Verwaltung bzw. Gemeinderat.
Als Maß der Armut zieht der Atlas lediglich der Zahl der Transferleistungsempänger*innen heran, da es keine Einkommensstatistik für die Gesamtbevölkerung gibt. Demnach bezogen 28.013 Personen ALG II (gegenüber 28.018 im Jahr 2014). Die Verteilung ist unverändert krass unterschiedlich zwischen Hochstätt (28,6%) und Schönau-Nord (26,9%) einerseits und beispielsweise Feudenheim-Süd, Neuhermsheim (beide 2,7%) oder Oststadt-Nord (2,8%) andererseits.
Arm trotz Arbeit
5.777 der 20.047 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (also ohne Kinder) gingen durchaus einer Erwerbstätigkeit nach (28,8%). Sie beziehen Leistungen nach dem SGB II, weil ihr Erwerbseinkommen zum Lebensunterhalt nicht reicht („Aufstocker*innen“). Im Jahr 2012 waren es „nur“ 5.146 Personen.
1.720 Personen müssen wegen geringfügiger Beschäftigung aufstocken. 2.168 arbeiten aus unterschiedlichen Gründen Teilzeit, aber 1.023 Personen gehen einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung nach, die jedoch nicht zum Leben reicht. Im Jahr 2012 waren dies „nur“ 797.
Und dies sind die Branchen, in denen Aufstocker*innen häufiger beschäftigt sind: „bei Reinigungsdiensten (10,2 %), im Gastgewerbe (6,1 %), sowie zusätzlich in der Arbeitnehmerüberlassung (4,8 %). Besonders ins Auge fällt dabei der hohe Anteil vollzeitbeschäftigter Aufstocker in der Arbeitnehmerüberlassung: Der überwiegende Teil der Leiharbeitnehmer/innen, die ergänzende Leistungen aus der Grundsicherung bezog, war in Vollzeit beschäftigt (71 Prozent; zum Vergleich alle Branchen: 26 Prozent)“ (Sozialatlas 2017, S. 77).
Innerhalb der Aufstocker*innen nimmt der Anteil der EU-Ausländer*innen zu (von 606 im Jahr 2010 auf 1.387 aktuell), die Zahl Nicht-EU- Staatsangehöriger beträgt 1.540; zusammen also etwa 50%. Bedenkt man, dass auch der Gruppe deutscher Staatsangehöriger viele Menschen „mit Migrationshintergrund“ angehören, ergibt sich das – nicht überraschende – Bild, dass Menschen mit Migrationshintergrund weit überproportional vertreten sind.
Kinderarmut ist Elternarmut
Von den 28.013 Menschen im Hilfebezug nach SGB II sind 7.966 „Nichterwerbsfähige“, sprich Kinder unter 15 Jahren, das sind 20,3% bezogen auf alle Kinder in Mannheim, also jedes 5. Kind. Die Realität spielt sich aber dramatischer ab: Die Hälfte der in Armut lebenden Kinder wohnt in 10 der 44 statistischen Bezirke, von Jungbusch über Hochstätt, Neckarstadt-West bis zum Herzogenried mit Anteilen zwischen 51,7% und 32,3%. Fast die Hälfte der betroffenen Kinder leben stadtweit in Alleinerziehenden-Bedarfsgemeinschaften.
Die Autoren des Sozialatlas weisen darauf hin, dass in Armut lebende Kinder häufig frühkindliche Entwicklungsdefizite erleiden, dass sie höhere gesundheitliche Risiken haben und geringere Bildungserfolge erreichen.
Demografische Entwicklung
„Nach der aktuellen Bevölkerungsprognose der Kommunalen Statistikstelle der Stadt Mannheim wird die Bevölkerungszahl der Stadt Mannheim von 316.126 (im Jahr 2017) um 21.898 Personen (+ 6,9 %) auf 338.024 Personen im Jahr 2036 zunehmen. Der prognostizierte Zuwachs der Gesamtbevölkerung setzt sich aus einer zunehmenden Bevölkerungszahl in allen Altersgruppen zusammen, wodurch die Alterung der Bevölkerung in der Stadt Mannheim gedämpft wird. Während in einigen Regionen Deutschlands zukünftig eine deutliche Alterung zu erwarten ist, wird sich die Altersstruktur der Bevölkerung in der Stadt Mannheim nach der Vorausschätzung der Kommunalen Statistikstelle bis ins Jahr 2036 nur vergleichsweise geringfügig verändern. Wie in anderen Großstädten wird die Alterung der Bevölkerung verlangsamt durch eine »altersselektive« Zuwanderung, da vor allem jüngere Menschen zwischen 18 und 35 Jahren nach Mannheim zuziehen.“ (Sozialatlas S. 13f) Wichtige demografische Trends seien die Heterogenisierung sowie die Vereinzelung.
- Quartierskonzepte zur Stärkung häuslicher Versorgungsstrukturen älterer Menschen
„Quartiersbezogene Konzepte, die nachbarschaftliche Hilfen mit ambulanter Pflegeversorgung verknüpfen, sind ein wichtiges Instrument, um den Bewohner/innen ein selbständiges Leben zu ermöglichen und eine frühzeitige Heimunterbringung zu vermeiden. Folgende Vorhaben sind geeignet, die selbständige Haushaltsführung und Alltagsbewältigung Älterer zu fördern, um den Verbleib in der eigenen Häuslichkeit zu sichern.“ Hierbei geht es beispielsweise um ein Konzept für FRANKLIN, „ambulante Unterstützungs-, Versorgungs- und Beteiligungsstrukturen für ältere Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf aufzubauen“ Ferner um einen Modellversuch auf der Vogelstang, „das Angebot der Hilfen im Haushalt auszubauen.“ Die offene Altenhilfe soll weiterentwickelt und modernisiert werden. - Chancen für »Aufstocker«
„Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung möglichst oberhalb des Niedriglohnbereichs durch (a) Prüfung der Einrichtung eines Servicebetriebs »städtische Dienstleistungen« bzw. der Rekommunalisierung bisher vergebener Dienstleistungen, um existenzsichernde Beschäftigungsmöglichkeiten im Umfeld der Stadtverwaltung zu ermöglichen sowie (b) eine wirtschaftspolitische Handlungsstrategie, die das Ziel der Schaffung bzw. des Erhalts von existenzsichernden Arbeitsplätzen zum Gegenstand lokaler Wirtschaftsförderung macht.“ Sozialamts-Chef Hermann Genz macht es an einem Beispiel deutlich: Es mache keinen Sinnen, im JobCenter vier Reinigungskräfte über eine Fremdfirma zu beschäftigen, die dann gleichzeitig aufgrund ihrer geringen Einkommen „Kunden“ des JobCenters sind. Die Wirtschaftsförderung solle sich überlegen, ob z.B. große Logistikunternehmen angesiedelt werden, wenn auch dort die Einkommen nicht zum Leben reichten.
Weiter soll die Qualifizierung von Zuwandere*innen forciert werden, um ihnen bedarfsdeckende Berufstätigkeit zu ermöglichen. - Sozialraumbezogenes und ressortübergreifend koordiniertes Handeln zur Integration in Erwerbsarbeit umsetzen
„Vor dem Hintergrund der kontinuierlich zunehmenden Zahl der Transferleistungsbezieher/ innen wird empfohlen, ein übergreifendes und koordiniertes Handlungskonzept in einem ausgewählten Stadtteil zu entwickeln.“ Es wird hierbei auf ein 2007 und 2008 praktiziertes Betreuungsmodell in Hochstätt verwiesen, wo durch Einsatz von 9 zusätzlichen Berater*innen ein erheblicher Rückgang der Erwerbslosigkeit auf Freiwilligkeitsbasis erzielt worden sei. Das damalige Projekt wurde durch drastische Kürzung der Eingliederungsmittel seitens der damaligen Bundesregierung gestoppt. Seither steigen in dem Stadtteil die ALG II-zahlen kontinuierlich. - Sozial ausgleichende Wohnraumversorgung
„Vor dem Hintergrund der dargestellten kleinräumigen Konzentration sozialer Benachteiligungen ist eine langfristige Strategie erforderlich, die eine Dezentralisierung von Sozialwohnungen bzw. preisgünstigem Wohnraum fördert und dem Verlust an sozialgebundenem Wohnraum entgegenwirkt. Vorrangiges Ziel einer solchen sozialen Wohnungspolitik ist die Förderung einer ausgewogenen Mischung verschiedener Mietniveaus in einem Quartier. Zielsetzung sollte die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum auch in den Quartieren sein, in denen es bisher an preisgünstigen Wohnungen mangelt. Mit einer Sozialquote im Wohnungsneubau bei der Entwicklung neuer Stadtquartiere, aber auch bei größeren Wohnungsbauvorhaben in bestehenden Stadtteilen, wie sie im Juli 2017 vom Gemeinderat der Stadt Mannheim beschlossen wurde, kann der geförderte Wohnungsneubau mit sozialräumlichen Mischungszielen verknüpft werden.“ (S. 7ff)
Man darf gespannt sein, welche Konsequenzen die Verwaltungsspitze und der Gemeinderat aus diesen Handlungsempfehlungen ziehen – z.B. bei der Aufstellung des nächsten Doppelhaushaltes. Aus Sicht der LINKEN ist es erfreulich, einige der seit Jahren erhobenen Forderungen nun als amtliche Handlungsempfehlungen lesen zu können, z.B. die Errichtung eines öffentlichen Beschäftigungssektors oder die Bekämpfung der fortschreitenden Segregation der Stadtgesellschaft in „gute“ und „schlechte“ Stadtteile durch aktive Wohnungspolitik. Aber das Lesen-können allein hilft den Menschen auch nicht weiter.
Thomas Trüper, Stadtrat DIE LINKE